1976 inszenierte Patrice Chéreau in Bayreuth zum 100. Geburtstag der Festspiele Wagners „Ring des Nibelungen“, dirigiert von Pierre Boulez. Heute ist dieser „Jahrhundert-Ring“ ein Mythos. Im ersten Aufführungsjahr aber war die Produktion ein absoluter Skandal, das vergisst sich immer so leicht. Denn was Patrice Chéreau auf der Bühne des Festspielhauses zeigte, war für das Publikum völlig neu – und unerhört. Er versetzte das Werk in die Zeit seiner Uraufführung, also ans Ende des 19. Jahrhunderts, und brach auch in seiner Personenregie mit allen bis dahin üblichen Inszenierungen. Plötzlich standen Menschen auf der Wagner-Bühne! Patrice Chéreau hatte den „Ring“ entmythologisiert und damit die eingefleischten Wagnerianer über alle Maßen provoziert. Doch spätestens ab dem dritten Jahr wurde die Inszenierung zu einem einhelligen und unbestrittenen Erfolg – und schließlich zur Legende, mehr noch: zum Maßstab für alle folgenden Inszenierungen des „Rings“, bis heute, nicht nur in Bayreuth, sondern überall auf der Welt.
1981 hätten wir beide dann gemeinsam „Tristan und Isolde“ in Bayreuth machen sollen, aber Patrice sagte im Jahr zuvor ab und sagte ganz offen: „Nach fünf Jahren „Ring“ kann ich nicht gleich mit dem „Tristan“ kommen, ich habe Angst, dass das aussieht wie ein fünfter Teil des „Rings“, dann wird die Tetralogie zur Pentalogie! Ich brauche mehr Abstand.“ Das habe ich natürlich sehr gut verstanden – wenngleich dieser „Abstand“ am Ende 26 Jahre dauern sollte. Erst 2007 haben wir unseren „Tristan“ realisieren können, an der Mailänder Scala. Ich war mit dieser Arbeit sehr glücklich. Vor allem, weil Patrice Chéreau, wie immer, mit einer außergewöhnlichen Genauigkeit die Partitur analysiert hat und anhand dieser Textkenntnis jeden einzelnen Charakter des Stücks sozusagen maßschneidern konnte. Außerdem hatte er verstanden, dass diese Oper nicht nur ein Kammerspiel ist. Was in der Intimität passiert zwischen Isolde und Brangäne, zwischen Kurwenal und Tristan, das wird erst groß und klar, wenn auch das Öffentliche mit in den Blick rückt, der Raum. Außerdem war ich natürlich dankbar, dass der sterbende Tristan im dritten Akt nicht mit einem Gummiboot unterwegs war. Solche Albernheiten gab es bei ihm einfach nicht.
Patrice Chéreau und mich hat eine 33-jährige Freundschaft verbunden, und für mich war er einer der größten Regisseure. Besonders geschätzt habe ich seine Fähigkeit, sich mit den kleinsten Details auseinanderzusetzen – als ob gerade sie das Wichtigste wären, und das nicht nur in den Werken, sondern überhaupt. Seine Künstlerpersönlichkeit war durch einen konstruktiven Fanatismus gekennzeichnet, und vielleicht haben wir uns deshalb so gut verstanden, weil wir in diesem Punkt immer sehr ähnlich gearbeitet haben. Es gibt auf der Bühne die gern zitierte Gefahr, sich in Details zu verlieren und den Blick fürs „Ganze“ zu verlieren. Meiner Ansicht nach ist dies aber der falsche Ansatz. Die große Linie erreicht man gerade durch die Betrachtung von kleinsten Details, durch die minutiöse Auseinandersetzung mit ihnen und dadurch, dass man zwischen diesen Details Zusammenhänge erkennt und die entsprechenden Verbindungen schafft. Patrice arbeitete fast wie unter einem Mikroskop: mit noch so kleinen Blicken oder Bewegungen. Das findet und fand seine Entsprechung in der Musik, wo die kleinste Steigerung in der Dynamik, die kleinste Veränderung in der Artikulation, ja die kleinste Tempoflexibilität eine so wichtige Rolle spielen. Patrice Chéreau konnte das wie kaum jemand sonst.
Er war auch jemand, der weder an das alte Prinzip „prima la musica – poi le parole“, noch an dessen Gegenteil als Basis für die Oper glaubte. Für ihn war beides gleichwertig.
Der große Unterschied zwischen Schauspiel und Oper ist, dass der Regisseur in der Oper weder die Zeit noch die Lautstärke kontrollieren kann. Im Sprechtheater ist der Regisseur selbst Meister dieser Elemente, aber in der Oper werden beide durch die Partitur bestimmt. Deshalb ist es für Schauspielregisseure oft so schwierig, in der Oper zu arbeiten – und umgekehrt! Für Chéreau war das kein Problem, obwohl er eigentlich vom Sprechtheater her kam und auch vom Film. Er war immer in der Lage, die Zeit zwischen einzelnen musikalischen Phrasen so zu nutzen, dass er dem Sänger oder der Sängerin eine neue Empfindung, eine neue Stimmung nahebringen konnte. Er hat sich nie nur um den gekümmert, der gerade sang und sowieso im Mittelpunk stand, sondern war regelrecht besessen davon, die Reaktionen der anderen zu modellieren. Auch hat er fantastisch mit dem Chor gearbeitet – mal hat er die Chormitglieder als Individuen auf der Bühne agieren lassen, mal sie als Gruppen kenntlich gemacht oder als Einheit gezeigt – alles, was er gemacht hat, war letztlich multidimensional.
Ich denke, es sind fünf Elemente, die Patrice Chéreau zu so einem großen und unnachahmlichen Regisseur gemacht haben: Erstens die sehr starke rationale Kapazität, einen Text zu lesen, zu verstehen und gleich seinen eigenen Subtext zu entwickeln ohne dabei den „Ur-Text“ zu zerstören. In seiner Arbeit hat er immer nach der Motivation gesucht und geforscht: Warum sagt ein Sänger/Schauspieler diesen Satz, jetzt, in diesem Moment, was bewegt ihn? Zum Zweiten besaß er ein fabelhaftes Auge – er wusste genau, wie man ein Bühnengeschehen für den Zuschauer spannend machen konnte. Zum Beispiel hat er fast nie die Figuren in einer gerade Linie auf der Bühne stehen lassen. Viele Regisseure machen solche räumlichen Fehler und büßen so die Spannung ein. Chéreau aber war geradezu beseelt von der Idee der Diagonalität. Drittens verfügte er über ein sehr gutes Ohr, obwohl er kein Musiker war. Er war erstaunlich sensibel für die Musik und hatte ein einzigartiges musikalisches Gedächtnis. Viertens hatte er ein sehr großes Herz und damit die Fähigkeit, mit seinen Sängern und seinen Schauspielern mitzufühlen. Er konnte sich in einem hohen Maß mitfreuen und mitleiden, er war hochsensibel für alle menschlichen Ängste und Emotionen. Und zu guter Letzt zeichnete er sich durch ein wunderbares Bauchgefühl aus, was für ihn die Grundlage seines Temperamentes war. Alle fünf Elemente sind für einen guten Regisseur unabdingbar, und bei Patrice Chereau verbanden sie sich zu einem selten anzutreffenden Gleichgewicht.
Aus unserer langjährigen Freundschaft entstand auch eine direkte Zusammenarbeit mit ihm als Schauspieler, als er gemeinsam mit dem West-Eastern Divan Orchestra und mir Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ aufführte und alle drei Rollen darin spielte. Überhaupt war er dem West-Eastern Divan Orchestra eng verbunden. Er half uns, unsere konzertanten Opernprojekte dramatisch zu erarbeiten und seine Erklärungen zum ersten Akt der „Walküre“ bleiben vielen Musikern bis heute unvergessen. Es war, als ob allein durch seine Worte eine Inszenierung vor unseren Augen entstand. Das letzte Mal habe ich Patrice im August gesehen, als er das West-Eastern Divan Orchestra bei Proben in Sevilla besuchte.
Er wird mir sehr fehlen.
This article appeared in the print edition of Die Zeit on 10 October, 2013.